Der innere Stammtisch: Ein politisches Tagebuch (German Edition) by Mangold Ijoma

Autor:Mangold, Ijoma [Mangold, Ijoma]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2020-09-14T16:00:00+00:00

Dienstag, der 3. Dezember

Idealvorstellung von Politik: Da ist ein Problem, unterschiedliche Lösungen werden erarbeitet, man entscheidet sich für eine davon, und nach drei Jahren werden die Ergebnisse überprüft.

Schön – dieses Szenario hat nichts mit Politik zu tun. Und zwar nicht, weil die Politik auf schlimme Art irrational wäre, sondern weil sie etwas gänzlich anderes ist, sonst hätten wir ausschließlich Technokraten-Regierungen und könnten die res publica den Experten überlassen.

Politik ist etwas genuin anderes. Trotzdem neigen wir dazu, sie so zu beobachten und zu betreiben, als gäbe es einen Maßstab, die «Wahrheit», die «Wirklichkeit», an der Regierungshandeln zu messen wäre. Diese Vorstellung geht von zwei Sphären aus: einer der gesellschaftlichen Probleme oder der ‹gesellschaftlichen Wirklichkeit›, die die Maßstäbe des Handelns setzt, und einer des politischen Handelns, die sich an der ersten Sphäre messen lassen muss. Aber tatsächlich ist Politik eine Gleichung mit mindestens zwei Unbekannten, und die Wirklichkeit, an der die Politik zu messen wäre, wird überhaupt erst von dieser hervorgebracht.

Anders als bei sportlichen Wettbewerben sehen wir in der Politik nie klare, endgültige Gewinner, denn die Ziellinie wandert jeweils mit – mit dem Leben, den Jahren, mit der Zeit. Ob eine Politik erfolgreich war, darüber streiten sich die Parteien, weil sich, erstens, Erfolge nicht so leicht zurechnen lassen, weil der nicht eingeschlagene Alternativpfad, zweitens, nur hypothetisch auszuphantasieren ist und weil die Beschreibungen und Deutungen der Vorgänge, drittens, stets auseinandergehen.

Bis in meine Mittdreißiger zum Beispiel war ich überzeugt, dass wir aufhören sollten, so zu tun, als könnten wir die Arbeitslosigkeit durch politische Maßnahmen reduzieren. Mir schien die Arbeitslosigkeit eine Folge der technisch-industriellen Innovation, ein Rationalisierungseffekt: lieber sollten wir an Lebensformen arbeiten, die nicht auf die Sinnstiftung durch Erwerbsarbeit ausgerichtet sind. Alles andere, so empfand ich damals, sei Augenwischerei. Die Glücklichen Arbeitslosen erschienen mir als Avantgarde der Post-Arbeitsgesellschaft. Im ‹Müßiggangster›, dem «Kontemplationsblatt der Glücklichen Arbeitslosen», schlugen diese 1999 ein «Bündnis für Simulation» vor: «Ihr tut, als ob ihr Arbeitsplätze schafft, wir, als ob wir arbeiten!»

Doch dann kam Gerhard Schröders Agenda, und etwas, was über Jahrzehnte ganz unveränderlich erschien, löste sich auf wie Nebelschwaden: Aus fünf Millionen Arbeitslosen wurden 1,5 Millionen, fast Vollbeschäftigung. Während sich die Jungen noch als «Generation Praktikum» bemitleiden lassen wollten, suchten Unternehmen von der Tischlerei bis zum Architekturbüro händeringend nach Arbeitskräften.

Aber wer jetzt angenommen hätte, das wäre allgemein als erfolgreiches Regierungshandeln anerkannt worden, täuscht sich. Naturgemäß nahm die Klage über soziale Ungerechtigkeit, Elend und Perspektivlosigkeit überhaupt nicht ab; stattdessen stritt man über die Deutungen: Die 3,5 Millionen einstigen Arbeitslosen seien bloß aus der Statistik verschwunden, weil sie in die Pauperisierung von Hartz IV und den Niedriglohnsektor abgeschoben worden seien.

Die Summe der Gerechtigkeitslücken: eine Konstante.

Kann man jetzt sagen: Einer hat recht behalten? Schröder oder Lafontaine? Nein. Muss man auch nicht. Politik ist ein Phantom, das ständig seine Erscheinungsform ändert, sie ist fluide, nicht zu greifen, sie ist nur so lange stabil, wie es eine hegemoniale Erzählung von ihr gibt.

Und längst sagen die Auguren eine neue Massenarbeitslosigkeit als Effekt von Digitalisierung in Tateinheit mit KI voraus. Dann werde ich mich zurücklehnen und mir

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